Weshalb sich Zuchtwerte ändern können

In der Praxis finden Änderungen von Zuchtwerten oft eine grosse Beachtung. Dies passiert in besonderem Masse, wenn die Zuchtwertänderungen zwischen zwei Auswertungen negativ sind. In diesem Artikel wird gezeigt, dass die Zuchtwerte an sich konstant bleiben. Was sich ändert sind die Schätzungen der Zuchtwerte. Mögliche Gründe dafür werden aufgezeigt und sind teilweise bedingt durch das Auswertungssystem. Da von Auswertung zu Auswertung immer mehr Daten berücksichtigt werden, sind gewisse Änderungen der geschätzten Zuchtwerte unausweichlich.

Was sind Zuchtwerte und wozu brauchen wir sie?

Der Zuchtwert eines Tieres in einem bestimmten Merkmal misst die Qualität der Erbanlagen (Teil des Genoms) eines Tieres in Bezug auf die Expression des entsprechenden Merkmals. Betrachten wir zum Beispiel das Merkmal Lebendgewicht eines Tieres im Alter von einem Jahr (LG1J). Dann haben Tiere mit einem hohen Zuchtwert im Merkmal LG1J im Durchschnitt Nachkommen mit einem höheren Lebendgewicht im Alter von einem Jahr. Im Gegensatz dazu bringen Eltern mit einem tiefen Zuchtwert im Merkmal LG1J Nachkommen mit einem tieferen Lebendgewicht im Alter von einem Jahr hervor (siehe Abbildung 1). Der Grund dafür liegt darin, dass bei der Befruchtung eine zufällige Stichprobe der Hälfte der Erbanlagen von den Eltern an die Nachkommen übertragen wird. Somit erhalten Nachkommen von Eltern mit einem hohen Zuchtwert im Merkmal LG1J Erbanlagen, welche mit hohen Werten im Merkmal LG1J zusammenhängen. Im Gegensatz dazu werden Nachkommen von Eltern mit einem tiefen Zuchtwert im Merkmal LG1J im Durchschnitt tiefere Lebendgewichte im Alter von einem Jahr aufweisen. Diese Beziehung zwischen Zuchtwerten und durchschnittlichen Merkmalswerten bei den Nachkommen lässt sich ideal in der Tierzucht verwenden. Aufgrund dieser Beziehung können Tiere mit hohem Zuchtwert als Eltern von zukünftigen Generationen ausgewählt werden. Somit lässt sich der Durchschnitt eines Merkmals in einer Nutztierpopulation mit züchterischen Massnahmen verändern.

Abbildung 1: Beziehung zwischen Zuchtwerten von Eltern in einem Merkmal und den beobachteten Merkmalswerten bei den Nachkommen. Hier ist die Beziehung am Beispiel Lebendgewicht im Alter von einem Jahr (LG1J) dargestellt.

Da wir aber das Genom in seiner Gesamtheit und somit auch die Erbanlagen, welche mit bestimmten Merkmalswerten assoziiert sind, nicht beobachten oder erfassen können, ist auch der Zuchtwert, wie er im vorherigen Abschnitt beschrieben wurde, eine unbekannte Grösse. Deshalb müssen wir den Zuchtwert aus verfügbaren Informationsquellen schätzen oder vorhersagen. Das Prinzip der Vorhersage lässt sich am besten anhand der Wettervorhersage erklären. Das Wetter entspricht dem kurzfristigen und spürbaren Zustand der Erdatmosphäre an einem bestimmten Punkt auf der Erdoberfläche. Datentechnisch ist das Wetter eine zusammengesetzte Grösse, bestehend aus Temperatur, Niederschlagsmenge, Sonnenscheindauer, Windgeschwindigkeit und Bewölkung. Das Ziel der Wettervorhersage ist, aufgrund von existierenden Wetterdaten aus der Gegenwart und der Vergangenheit, die Entwicklung des Wetters in der näheren Zukunft vorherzusagen. Das zentrale Werkzeug für eine solche Vorhersage sind die sogenannten Wettermodelle. Solche Modelle beinhalten die Regeln, wie aus aufgezeichneten Wetterdaten mögliche weitere Entwicklungen des Wetters geschätzt werden können. Diese Schätzungen der zukünftigen Entwicklungen des Wetters werden dann als Wettervorhersage bezeichnet.

Analog zur Wettervorhersage lässt sich auch der Zuchtwert aufgrund von vorhandenen Informationsquellen schätzen. Die in der Zuchtwertschätzung verwendeten Informationsquellen bestehen aus den beobachteten Merkmalswerten und aus den bekannten Faktoren, welche die Umwelt beschreiben, in welcher die Merkmalsleistungen erbracht wurden. Als Beispiel von Umweltfaktoren können Betriebseinflüsse, Alter des Tieres, und Saison, in welcher der Merkmalswert gemessen wurde, erwähnt werden. Die Abstammung der Tiere fliessen auch als Information in die Zuchtwertschätzung ein. Seit der Einführung der genomischen Selektion werden auch die Allelkonfigurationen der Tiere an definierten Orten des Genoms mitberücksichtigt. Ähnlich den Wettermodellen in der Wettervorhersage, werden für die Zuchtwertschätzung statistische Modelle verwendet. Diese Modelle beschreiben die Regeln, nach welchen sich die für die Zuchtwertschätzung verwendeten Informationsquellen und die Zuchtwerte beeinflussen. Diese Regeln beinhalten, dass sich die beobachteten phänotypischen Merkmalswerte aus einer genetischen Komponente und einer Reihe von Umweltfaktoren zusammensetzen. Für die Anwendung der Resultate aus den statistischen Modellen in der Tierzucht können wir die genetische Komponente mit dem Zuchtwert des Tieres gleichsetzen. Somit kann der Zuchtwert eines Tieres aus den beobachteten Merkmalswerten korrigiert um die bekannten Umweltfaktoren geschätzt werden.

Weshalb ändern sich Zuchtwerte?

Abbildung 2: Datenzuwachs für Zuchtwertschätzung im Verlauf des Lebens eines Tieres.

Aufgrund der bisher beschriebenen Definition des Zuchtwertes ist klar, dass sich der Zuchtwert eines Tieres nach der Zeugung nicht mehr ändert. Was sich ändert sind die Schätzungen des unbekannten Zuchtwertes eines Tieres. Der Grund für diese Änderungen des geschätzten Zuchtwertes sind die Veränderungen bei den Informationsquellen und allfällige Anpassungen des statistischen Modells, welches in der Schätzung verwendet wird. Eine inhärente Änderung der Informationsquellen ist gegeben durch den laufenden Zuwachs an phänotypischen Daten, welche in der Zuchtwertschätzung eingesetzt werden (siehe Abbildung 2). Daneben können auch Änderungen aufgrund von Korrekturen von Abstammungen oder von Typisierungsergebnissen auftreten. Falls mehrere Änderungsarten kombiniert auftreten, also wenn beispielsweise der Datenzuwachs mit Änderungen bei der Abstammung und Anpassungen beim statistischen Modell in der gleichen Auswertung zusammenfallen, dann können die geschätzten Zuchtwerte für das gleiche Tier zwischen verschiedenen Auswertungen stark voneinander abweichen.

Ein vergleichbares Phänomen tritt auch bei der Wettervorhersage auf. Vergleicht man die Wetterprognosen mit unterschiedlichem Vorhersagehorizont (5-Tage Prognose und 24 Stunden-Vorhersage), dann können diese auch stark variieren. Diese Schwankungen sind vor allem in instabilen Wetterlagen besonders markant. Instabile Wetterlagen zeichnen sich durch schnelle Veränderungen der Zustände in der Erdatmosphäre aus. Diese sind durch die aufgezeichneten Wetterdaten nur schwer zu erfassen. Als Folge der in den Wetterdaten ungenügend erfassten Zustandsveränderu

Wie lassen sich die Vorhersagen validieren?

Die Validierung der Wettervorhersagen passiert durch die laufende Erfassung von Wetterdaten praktisch automatisch. Die Prognosen für einen bestimmten Tag müssen nur mit den für diesen Tag erfassten Wetterdaten verglichen werden und schon kann die Genauigkeit der Vorhersage bestimmt werden. Bei der Zuchtwertschätzung ist die Validierung der Vorhersagen etwas aufwändiger, aber nicht unmöglich. Eine einfache Validierungsstrategie von geschätzten Zuchtwerten basiert auf der Definition des Zuchtwertes. Diese Strategie wird auch als Top-Bottom-Vergleiche bezeichnet (siehe Abbildung 3). Dabei werden die Verteilungen der Nachkommenleistungen von Elterntieren mit hohem und mit tiefem geschätzten Zuchtwerten miteinander verglichen. Bei diesem Vergleich sollten die beiden Verteilungen möglichst wenig überlappen und somit klar separierbar sein. Diese Top-Bottom-Vergleiche sind einfach zu erstellen, aber sie sind nur für Tiere mit vielen Nachkommen wirklich aussagekräftig. Eine alternative Validierungsmethode basiert auf dem Vergleich zwischen geschätzten Zuchtwerten, welche auf unterschiedlichen Datenständen basieren.

Abbildung 3: Vergleich von Nachkommenleistungen eines Tieres mit tiefem geschätzten Zuchtwert (“Bottom”) und eines Tieres mit hohem geschätzten Zuchtwert (“Top”)

Bei dieser Methode werden für eine Gruppe von Tieren Zuchtwerte unter Einbezug von Eigenleistungen und allfälligen Nachkommenleistungen geschätzt. Diese geschätzten Zuchtwerte werden mit Schätzungen verglichen, bei welchen die Eigenleistungen und die Nachkommenleistungen nicht berücksichtigt wurden. Für die ausgewählte Gruppe von Tieren sollten sich die geschätzten Zuchtwerte mit den unterschiedlichen Datenständen im Mittel möglichst wenig unterscheiden. Auch die Streuung der geschätzten Zuchtwerte sollte zwischen den Datenständen möglichst gleichbleiben. Beide Validierungsmethoden sind erst sinnvoll, sobald wir diese auf eine Gruppe von Tieren von einer bestimmten Grösse anwenden können. Die Resultate aus der Validierung können eine Aussage über die Qualität aller geschätzten Zuchtwerte für eine ganze Population machen und sie sind weniger geeignet, um geschätzte Zuchtwerte einzelner Tiere zu beurteilen.