Rund 2 % der lebend geborenen Kälber gehen in den ersten 30 Tagen ungewollt ab. Das hört sich nach nicht gerade viel an. Dennoch bedeutet jeder einzelne Fall wirtschaftliche und züchterische Verluste und unnötiges Tierleid. Neben betrieblichen Massnahmen kann die Zucht helfen, die Abgänge zu reduzieren.
Abgänge während der Aufzucht sind vor allem auf bakterielle und virale Durchfall- und Atemwegserkrankungen zurückzuführen. Das Management auf dem Betrieb, die Jahreszeit und die Genetik beeinflussen das Auftreten und den Verlauf dieser Erkrankungen. Kälberverluste in der Aufzuchtphase sind zwar etwas seltener als bei der Geburt, zu welchen auch Abgänge in den ersten zwei Lebenstagen zählen, sie wirken sich jedoch wirtschaftlich umso negativer aus, je später im Leben der Abgang passiert.
In Bezug auf die Vitalität eines Tieres wurden bisher die Phasen der Geburt (Lebend-/Totgeburt) sowie der Produktion (Nutzungsdauer) züchterisch bearbeitet. Die Zeitspanne dazwischen wurde dagegen vernachlässigt. Mit der Einführung des Index Aufzuchtverluste auf die Zuchtwertschätzung vom April 2020 haben wir diese Lücke geschlossen.
Foto: Braunvieh Schweiz
Daten sind bereits vorhanden
Für die züchterische Bearbeitung der Abgänge während der Aufzucht benötigen wir Informationen zur Geburt, zu Bewegungen, also den Standortwechseln, und den Zeitpunkt und Grund des Abgangs. Diese Daten werden bei der Tierverkehrsdatenbank in Form der Geburts- und Bewegungsmeldungen von den Züchtern bereits erfasst. Somit stehen ohne zusätzliche Erhebungen eine grosse Menge Daten in genügender Qualität zur Verfügung. Die Fragen, die wir uns dann gestellt haben, sind die folgenden:
- Wie können wir einen Abgang aufgrund dieser Daten definieren?
- Welche Zeitabschnitte sind für die Beschreibung der Aufzuchtphase sinnvoll?
Aufgrund von Angaben aus der Literatur und der Analyse vorhandener Daten haben wir für die genetische Auswertung von ungewollten Abgängen während der Aufzucht drei Zeitabschnitte definiert:
- p1 = 3. bis 30. Tag (männlich und weiblich)
- bp2 = 31. bis 183. Tag (nur männlich)
- hp2 = 31. bis 458. Tag (nur weiblich).
Als ungewollte Abgänge gelten Abgänge, für die der Code „als Kadaver entsorgt“ verwendet wurde. In der Tabelle 1 haben wir die Abgangs- bzw. Überlebensfrequenzen für die drei definierten Merkmale dargestellt.
Tabelle 1: Abgangs- bzw. Überlebensfrequenzen in % nach Merkmal und Auswertung
GA_BV | GA_RH | |||||
---|---|---|---|---|---|---|
Merkmal | verendet | lebend | andere Abgänge | verendet | lebend | andere Abgänge |
p1 | 1.9 | 97.9 | 0.2 | 1.8 | 97.9 | 0.3 |
hp2 | 2.4 | 83.1 | 14.5 | 1.9 | 85.8 | 12.3 |
bp2 | 4.0 | 22.1 | 73.9 | 3.7 | 37.1 | 59.2 |
GA_BV: Genetische Auswertung Braunvieh Schweiz
GA_RH: Gemeinsame genetische Auswertung mit Daten von swissherdbook und Holstein Switzerland
Tiefe Erblichkeit, aber...
Aus der Datenvalidierung, bei der wir verschieden Faktoren überprüfen, und der Merkmalsdefinition resultiert eine Datei, in der steht, ob ein Tier innerhalb der vorgegebenen Zeitabschnitte ungewollt abgegangen ist oder nicht. In der Zuchtwertschätzung versuchen wir diese Beobachtung mit einem statistischen Modell zu erklären. Das interessanteste Element in diesem Modell ist der Effekt der Gene der Tiere, auch Zuchtwert genannt. Mit den weiteren Modellelementen versuchen wir die Umwelt zu beschreiben. Diese Elemente sind das Geburtsjahr, der Geburtsmonat, die Region, die Laktation der Mutter, das Geschlecht und der Betrieb.
Für die Schätzung der Populationsparameter haben wir ein lineares Mehrmerkmals-Vatermodell gewählt. Die Erblichkeiten für die Aufzuchtverluste sind erwartungsgemäss tief und liegen im Bereich von knapp 1 bis rund 5 %. Das heisst, dass nur ein geringer Anteil der Variabilität in der Population durch die Gene erklärt wird.
Die Zuchtwertschätzung und Approximation der Sicherheiten der geschätzten Zuchtwerte führen wir mit dem Software-Paket Mix99 durch. Dazu verwenden wir ein lineares Mehrmerkmals-Tiermodell mit genetischen Herkunftsgruppen. Die Zuchtwerte standardisieren wir auf einen Mittelwert von 100 und eine genetische Standardabweichung von 12. Die Zuchtwerte stellen wir so ein, dass hohe Werte in der Zucht vorzuziehen sind. Das heisst, dass bei der Verpaarung von Eltern mit hohen Zuchtwerten die Nachkommen im Durschnitt tiefere Abgangsrisiken haben werden, als die Basispopulation. Als Basispopulation haben wir die 6- bis 8-jährigen Kühe definiert. Dank der grossen Datenmenge ist es uns trotz der tiefen Erblichkeiten möglich, für Stiere sichere Zuchtwerte zu schätzen.
Einsatz von positiven Stieren lohnt sich
Für die Publikation haben wir aus den drei Einzelzuchtwerten p1, hp2 und bp2 entsprechend der wirtschaftlichen Bedeutung (2:1:1) einen Index Aufzuchtverluste gebildet. Der Index Aufzucht wird nur für Stiere mit mindestens 70 Beobachtungen im ersten Zeitabschnitt (bis 30 Tage) publiziert (CH Label).
In der Abbildung 1 ist für die Braunvieh-Auswertung (GA_BV) der mittlere Anteil Abgänge nach Zuchtwertklasse (Index) dargestellt. Trotz geringer Erblichkeit sind deutliche Unterschiede zwischen diesen Klassen sichtbar. So ist der Anteil Abgänge bei den Stieren in der schlechtesten Zuchtwertklasse 2 bis 3 Mal so hoch wie bei den Stieren in der höchsten Zuchtwertklasse.
Abbildung 1: Abgangsraten in den Zeitabschnitten p1, hp2 und bp2 nach Zuchtwert-Klasse (GA_BV)
Rassen mit stärkerer Bemuskelung im Vorteil
Ein Vergleich zwischen den Zuchtrichtungen zeigt, dass in der Braunvieh-Auswertung Original Braunvieh (OB) in Bezug auf die Aufzuchtverluste gegenüber Brown Swiss (BS) im Vorteil ist. Auch in der gemeinsamen Auswertung für swissherdbook und Holstein Switzerland können wir Unterschiede zwischen den Rassen beobachten. Wie die Abbildung 2 zeigt, liegen die Indexe (auf der HO-Basis) für Simmental (SI) im Durchschnitt um 13 und für Swiss Fleckvieh (SF) um 9 Punkte höher als für Holstein (RH, HO). Eine mögliche Erklärung für diese Beobachtung ist, dass sich die etwas stärkere Bemuskelung bei OB, SF und SI günstig auf die Überlebensfähigkeit eines Jungtieres auswirkt.
Abbildung 2: Verteilung der Zuchtwerte Aufzuchtverluste nach Rasse für GA_RH (Basis HO20)
Mit dem Index Aufzuchtverluste steht den Züchtern und insbesondere den KB-Organisationen ab sofort ein Instrument zur Verfügung, das es erlaubt, den genetischen Trend für Abgänge während der Aufzucht zu beobachten und extreme Vererber zu erkennen. Damit kann die Widerstandsfähigkeit und somit auch das Tierwohl der Kälber gefördert werden und es lässt sich eine bessere Wirtschaftlichkeit im Betrieb erreichen.
Zudem können diese Zuchtwerte für phänotypische Analysen im Bezug auf Regionen im Genom mit unterrepräsentierter Homozygotie verwendet werden. Segmente im Erbgut, in denen man einerseits Haplotypen überhaupt nicht oder zu selten in homozygoter Form beobachtet, können nun Dank der Zuchtwerte für Aufzuchtverluste vertieft analysiert werden. Haben diese Haplotypen gleichzeitig signifikante Effekte auf die Aufzuchtverluste, ergeben sich daraus zusätzliche Hinweise für ein proaktives Erbfehlermanagment.